History in Fashion – 1500 Jahre Stickerei in Mode: Leipzig vom 21.11.2019 bis 29.03.2020

Am Mittwoch, den 20. November, wurde mit grosser Publikumsresonanz die Sonderausstellung „HISTORY IN FASHION. 1500 Jahre Stickerei in Mode“ im GRASSI Museum für Angewandte Kunst Leipzig eröffnet. Überwiegend unbekannte Schätze aus der textilen Sammlung hob Kuratorin Dr. Stefanie Seeberg ins Licht einer spannend inzenierten  Schau. Sie lenkt unseren Blick wie durch ein Brennglas auf 150 Exponate und 1500 Jahre textile Kultur-, Technik-, ja Menschheitsgeschichte. Die alles umfassende Klammer bietet die thematische Konzentration auf Mode und Kleidung, uns allen zutiefst vertraut. Von einem 1500 Jahre alten koptischen Medaillon wird der Besucher bis zum selbst leuchtenden LED-Kleid unserer Tage geleitet. Doch keineswegs chronologisch, das wäre zu banal gedacht.

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Eröffnung „History in Fashion“ alle Fotos © Schnuppe von Gwinner

Sechs Themenkreise identifizierte Stefanie Seeberg als ideale Übermittler spannender Geschichten, die sich aus der Raffinesse technischer Kreativität im Dienste sozialer Hierarchien, regionaler Gepflogenheiten, ästhetischer Vorlieben, individueller Ambitionen und des Zeitgeistes speisen. Stickereien sind nur aus ihrem Kontext interpretierbar. Man begegnet ihnen zu allen Zeiten mit äusserster Wertschätzung, denn sie bezeugen, zumindest bis zur Erfindung automatischer Stickmaschinen, die Hand- und Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer/-innen. Auch die Genderfrage hält sich nicht an das vermutete Klischee: Sticker war über Jahrhunderte ein Männerberuf und bekam erst seit romantischer Zeit ernsthafte Konkurrenz durch den so genannten weiblichen Hausfleiss – als erbarmungslose Heimarbeit oft verwechselt mit der kreativen Beschäftigung wohl situierter Bürgerfrauen und Künstlerinnen.History in Fashion_Foto_SvGwinner_0007

Die Bandbreite der Verknüpfungen ist frappierend.

Zum Beispiel zur spezifischen Sammlungs-Geschichte des GRASSI Museums für Angewandte Kunst: Die wesentlichen Grundlagen zur textilen Sammlung wurde hier vor gut 150 Jahren gelegt, als es darum ging, Musterbeispiele zusammen zu tragen, die technisch und gestalterisch vorbildlich waren. Nur im Ausnahmefall kamen ganze Garderoben aus Privatbesitz in den Fundus, stattdessen eine reiche Vielfalt an Fragmenten, die als Musterstücke inspirieren und sich als Ansatzpunkt für eine Weiterentwicklung anbieten.

History in Fashion_Foto_SvGwinner_0011Oder auch der Einfluss des Zeitgeschmacks auf den Umgang mit Artefakten: Noch vor wenigen Jahrzehnten herrschte allgemeiner Konsens, dass von der Zeit gezeichnete Exponate durch Restaurierung wieder in ihre ursprüngliche Pracht und Schönheit versetzt werden sollten, bevor man sie ausstellt. Inzwischen hätte man Skrupel, da sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass diese Objekte viele authentische Informationen zu ihrer Herkunft und Geschichte bewahren, die durch allzu eifrige Wiederherstellung zerstört würden. So werden die Artefakte unrestauriert gezeigt – ein grosser Vorteil, der heute auch vom Publikum, durch die Vintage-Mode beeinflusst, erkannt wird.

History in Fashion_Foto_SvGwinner_9958Stefanie Seeberg räumt ein, dass es eine Herausforderung gewesen sei, überwiegend mit Fragmenten zu arbeiten. Zumal gerade in letzter Zeit europaweit grosse Ausstellungen zu Schwerpunkten der Modegeschichte inszeniert wurden, in denen hinreissende Garderoben die Hauptrolle spielten.

History in Fashion_Foto_SvGwinner_9942Doch die Kuratorin weiss Funken aus ihrem Bestand zu schlagen. Ausstellung wie Katalog stellen die Details in den Mittelpunkt: Technik, Material, Effekte und Motive vereint mit den interessanten Geschichten ihrer Herkunft und Bedeutung. Dadurch werden viele Türen geöffnet, viele Wege gewiesen und ein Anfang in der Erforschung all dieser Schätze gemacht. Jedes einzelne Exponat lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf einen immer wieder überraschenden Kosmos technischer Besonderheiten, kreativer Überlegungen und kulturhistorischer Zusammenhänge. Die Bandbreite der Themen, die in dieser Ausstellung angerissen werden, scheint unerschöpflich und allumfassend – geradezu angeregt von der scheinbaren Unvollkommenheit vieler Exponate, die das Weiterdenken geradezu provozieren und die Vorstellungskraft animieren. History in Fashion_Foto_SvGwinner_9967

Konsequent verfolgt das Ausstellungskonzept also auch die Spur der Inspiration in die Zukunft. In Kooperation mit Prof. Bettina Goettke-Krogmann und den Studierenden am Lehrstuhl für Textildesign der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle entstand ein grandioses „Follow up“, das Projekt  „Klee, Sensorik und ganz viel Stickerei“. Die Beschäftigung mit den historischen Stickereien war hier Kick-off zum Einsatz des textilkünstlerischen Mediums in der Auseinandersetzung mit aktuellen Themen. Insbesondere der Körper selbst, seine Optimierung, Schönheitsoperationen, Tatoos, Körperbehaarung etc. inspirierten die angehenden Textildesigner zu einem oft überraschenden Einsatz von Stickerei.
History in Fashion_Foto_SvGwinner_9979Auch die Besucher werden jeden Mittwoch-Nachmittag in der offenen Werkstatt mit Magdalena Sophie Orland ihre Eindrücke manuell oder maschinell stickend und nähend direkt umsetzen können.

Text und Fotos © Schnuppe von Gwinner

 

Katalog zur Ausstellung: Zur Ausstellung liegt ein umfangreicher Katalog vor. Sandstein-Verlag, ca. 220 Seiten, ca. 250 Abb., deutsch/englisch, ca. 34 Euro

GRASSI Museum für Angewandte Kunst
Johannisplatz 5-11
04103 Leipzig

Öffnungszeiten: Di–So, Feiertage 10–18 Uhr