Circa 4 Kilogramm Buch – fast 550 Seiten, gebunden in gediegenes Schwarz mit bordeauxrotem Kapitelband und der Abbildung prächtiger Art Déco Keramik auf dem Cover – liegen seit einigen Tagen auf meinem Schreibtisch: Horst Makus: „Französische Kunst-Keramik 1860 bis 1920“ Ein Handbuch. Zum Studium dieser gewichtigen Publikation zog ich mich in die Sofaecke zurück.
Muss ich erwähnen, dass ich ganz bestimmt nicht zu den Spezialisten dieser Materie, also auch nicht zur Zielgruppe zähle? Doch die behandelte Epoche ist mir aus dem Kunstgeschichts-Studium und von vielen Besuchen eines meiner Lieblingsmuseen, le Musée des Arts décoratifs, im Seitenflügel des Pariser Louvre, zutiefst vertraut. Auch die ständigen Sammlungen im Hamburger Museum für Kunst & Gewerbe, im Bröhan Museum Berlin und im Grassi Museum für angewandte Kunst in Leipzig, hüten keramische Schätze dieser Ära. Ja, ich merke gerade – Hinweise auf öffentliche Sammlungen, die französische Kunst-Keramik leibhaftig präsentieren, fehlen in diesem wirklich eindrucksvollen Kompendium, dessen Inhalt sonst wohl kaum Wünsche übrig lässt. Aber vielleicht wäre solch eine kleine feine Empfehlungsliste aus Perspektive der eindeutig adressierten Sammler nur Platzverschwendung gewesen?
Der Autor Horst Makus publiziert als selbst ernannter, in der Fachwelt hoch geschätzter, Spezialist für Kunst-Keramik seit 1981 Artikel in Fachzeitschriften und Fachbücher. Ein veritabler Erfolg gelang ihm mit seinem Werk über die Keramik der 50er Jahre (1998 / 2006). Als kenntnisreiches und üppig bebildertes Handbuch erschien es „just in time“ zum allgemein wieder auflebenden Interesse am Design der 50er Jahre und entwickelte sich zum „Must-have“ begeisterter Sammler.
Nun legt Horst Makus quasi ein Lebenswerk vor an dem er Jahrzehnte arbeitete, akribisch und Detail versessen, keinen Aufwand scheuend, voller Hingabe und Umsicht. Seine Leidenschaft und Faszination für die Geschichte jeder einzelnen Keramik, gleich ob Wandteller oder Vase, spricht aus diesem Buch, das wieder ein ganz großes Geschenk an eine sicher überschaubare Sammlergemeinde, und letztlich auch an sich selbst, ist.
Da ich eindeutig nicht diesem Kreis von Eingeweihten zugehöre und ehrlich gestanden der Kunst-Keramik eher mit sparsamen Respekt, in einigen Fällen auch mit ehrlichem Widerwillen, gegenüber stehe, habe ich mich gefragt, welchen Honig ich aus dieser wortreichen und üppig bebilderten Informationsfülle saugen kann. Lange musste ich nicht suchen.
Der Zeitraum von 1860 bis 1920 in Frankreich umfasst – nicht nur dort – den gesellschaftlichen Clash in historischer, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht. In der Literatur, Musik, angewandten, bildenden und darstellenden Kunst spiegelt sich diese Zeit des Umbruchs eindrucksvoll wieder. Die Konfrontation rückwärts gewandter, konservativer Kräfte mit einer, durch die Industrialisierung und einem rasanten technischen Fortschritt notwendige Modernisierung der Gesellschaft entwickelte sich zu einer Gewitterwolke in der sich Endzeit – und Aufbruchsstimmung kräftig aneinander rieben.
Die Lektüre der detailreichen Keramiker-Biographien verdichtet diese Epoche in persönlichen Einzelschicksalen, berichtet uns von sozialen, beruflichen, wirtschaftlichen und künstlerischen Gegebenheiten und Ambitionen die spannender und facettenreicher nicht sein könnten. Der Fokus auf das Thema der künstlerischen Keramik, die Konzentration auf eine Branche in einem Land, ermöglicht eine anschauliche Vorstellung damaliger Verhältnisse. Zumindest finde ich selbst es hochspannend etwas über Ausbildungen und Werdegänge zu erfahren, über die Arbeitssituationen in Werkstätten und Manufakturen, über wirtschaftliche Kooperationen und Strategien, über die Bedeutung der Weltausstellungen und anderer Präsentationsformen, Galerien, Messen und Märkte, über Einflüsse und Moden … Das waren die Zeiten, wo man als Keramiker nicht nur eine Goldmedaille als Anerkennung für seine Arbeiten erringen konnte, sondern, wenn’s gut lief, auch als Ritter der Ehrenlegion ausgezeichnet wurde!
Ein anderes ebenso zentrales wie faszinierendes Thema, das in diesem Buch breiten Raum einnimmt, ist die hochmotivierte Experimentierfreude die für das keramische Schaffen dieser Epoche charakteristisch ist. Mit geradezu wissenschaftlichem Interesse ging es vor allem um die Zusammensetzung der keramischen Massen, die chemischen Rezepturen der Glasuren und die Temperaturen und Atmosphären beim Brand.
Als Beispiel sei vielleicht der unglaubliche Einfluss japanischer Keramik auf die westliche Kultur benannt. Japan, dessen Öffnung erst 1853 durch die Amerikaner erfolgte, beeinflusste mit seiner quasi unberührten und exzellenten handwerklichen Kultur die Künstler des Fin de Siècle und des Art Déco stilistisch, formal, technisch – in jeder Hinsicht. Sehr viel erfahren wir hier über all diese Zusammenhänge und selbstverständlich bleibt der Autor keine genaue Aufklärung der vielen Fachbegriffe schuldig, sei es „Barbotine“, „Pâte-sur-pâte“, „Email mat velouté“, „Grès tendre“ etc. . Es will scheinen, dass man sich damals einen Vorsprung in der Konkurrenz eher durch die Präsentation einer neuen effektvollen Glasur verschaffen konnte als durch eine sensible künstlerisch-formale Innovation. Doch über Geschmack lässt sich nicht streiten. Zum Ende der Epoche, so viel ist klar, „unterliegt die künstlerische Keramik dem wirtschaftlichen Kaufverhalten der Massen, die geschmäcklerische Billigware vorzog“.
Horst Makus stellt eine zwei Seiten umfassende Danksagungen an all‘ seine Unterstützer an den Anfang seines Handbuches. Episoden, Entwicklungen und Eindrücke stimmen dann, Neugier anstiftend, auf den folgenden Seiten auf den Zeitgeist der behandelten Epoche ein. Sie sind durchsetzt mit eindrucksvollem Name-dropping, das die Erwartung des Kenners vermutlich auf die Spitze treibt während der Newcomer etwas hilflos drumherum liest um die generelle Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Dann 550 werkgeschichtliche Beiträge zu Keramikern, Künstlern, Manufakturen und Sachbegriffen von A bis Z, selbstredend mit Querverweisen in alle Richtungen versehen, umspült, illustriert und durchsetzt mit vielen fabelhaften Objektfotos und hin und wieder auch dokumentarischen Abbildungen.
Das ist eine Schatzgrube an Wissen, in die man hier eintauchen darf – siehe oben – unglaublich inspirierend! Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler haben daran sicher nicht weniger Freude als Autoren und Alchimisten sie haben könnten, wenn sie sich mit diesem Handbuch in die Sofaecke zurück ziehen würden.
Ich bitte Horst Makus und seinen Verlag um Nachsicht für meine wenig fachgerechte Begeisterung für dieses aussergewöhnliche Buch und würde mich freuen, wenn über die ehrenwerten Fachkreise hinaus der ein oder andere neugierig geworden ist.
© Schnuppe von Gwinner
Französische Kunst-Keramik 1860–1920
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Horst Makus
umfangreicher Anhang mit Modellverzeichnissen, Marken und Signaturen, Bibliographie sowie Namensregister
584 Seiten mit ca. 1200 farbigen Abbildungen
Format 24,5 x 31 cm. Hardcover mit Frenchfold-Umschlag… [mehr]
ISBN: 978 3 8030 4032 9