»Do It Ourselves. A New Mentality in Dutch Design«: eine Buchbesprechung

Camilo Oliveira, An I, 2018 Ein selbstlernendes Werkzeug, das versucht, ein verlorenes Gefühl der Subjektivität wiederherzustellen, indem es einen Dialog zwischen dir und dir selbst als digitalem Avatar herstellt. Es verwendet künstliche Intelligenz, um deine Erfahrungen und Gedanken zu studieren und ermöglicht es dir, von dir selbst zu lernen. Anstatt mit einem Freund, einer Familie oder einem Psychologen zu sprechen, bist du der andere. ...

Der Blick aus meinem Fenster. Passanten gehen am Kanal entlang. Kinder schmeissen Steinchen hinein. Nachmittags leuchten die Altbaufassaden der gegenüberliegenden Häuser in der Sonne. Sofern sie scheint. Ab und zu fliegt ein Reiher mit schwerem Flügelschlag zwischen Himmel, Mauern und Wasserlauf. Hin. Und nachher wieder zurück. Richtung Zoo, zur Seehundfütterung. Da gibt es Heringe anstatt der Goldfische im Teich. Im Park, wo auch sein Baum steht.

In diesen Tagen des Rückzugs suche ich mir andere Fenster. Im hohen Stapel zu rezensierender Bücher warten lauter neue Einblicke und Ausblicke. Und wenn der abge“arbeitet“ ist geht es an die gut gefüllten Bücherregale. Jedes Buch als Fenster in eine andere, spannende Welt!

do_it_cover

Für heute habe ich ein wirklich buntes Paperback aus dem Bücherstapel gezogen, mit plakativen Headlines die mich in ihrer Typographie an meine Dedektivspiele im Alter von zehn Jahren erinnern. Als ich geheimnisvolle Botschaften aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammenklebte, aus Fragmenten von Schlagzeilen und Sätzen alter Tageszeitungen, deren Inhalte ich auflöste um Neue zu schaffen. Das passt perfekt, denn nichts anderes beschreibt der niederländische Designjournalist Jeroen Junte in seinem Buch »Do It Ourselves. A New Mentality in Dutch Design«. Er führt uns in das Denken und Handeln der heutigen niederländischen Kreativgeneration ein, die wirklich alles bisher Dagewesene mit neuen Augen betrachtet.

do_it_Aina_Seerden
Aina Seerden, Your Digital Twin, eine Serie von Kostümen und Animationen die unser Bewusstsein über die Art und Weise schärfen, wie das Internet unser Verhalten beeinflussen kann.

Er schaute sich bei den jüngsten Absolventen wegweisender Hochschulen um, insbesondere an der Design Academy Eindhoven, eine der weltweit fortschrittlichsten Institutionen ihrer Art. Auch die Willem de Kooning Academy in Rotterdam oder die ArtEZ Academy of Art & Design in Arnhem als Zentren der Innovation, ebenso die stärker wissenschaftlich orientierten Hochschulen wie Eindhoven University of Technology oder Delft University of Technology, die viele ganz neuartige Studiengänge anbieten.

Einführend erläutert der Autor den Terminus des „Dutch Design“, der sich mit der erfolgreichen Positionierung der Designplattform DROOG seit 1992, quasi als Synonym für extrem kreatives, quergedachtes, innovatives Design etabliert hat. „Dutch Design“ lässt Konzepte assoziieren, die sich durch eine spielerische, oft humorvolle Auffassung und die Wiederbelebung der Wertschätzung und Inspirationskraft handwerklicher Techniken auszeichnen. Auch den autonom, von der Industrie unabhängig produzierenden Designer, der durchaus kritische Statements als spektakuläre künstlerische Schauobjekte in handwerklicher Perfektion und anspruchsvoller Ästhetik als Kleinstserien und Unikate hervorbringt, die eine große kommerzielle Anzeihungskraft haben. Design mit Museumsstatus als Funktion!?

do_it_Jesse_Howard_1895
Jesse Howard & 6 weitere Designer, Hacking Households 2014 – Mit erschwinglichen Technologien der digitalen Fertigung und elektronischen Plattformen wird die Übersetzung eines Code in Materie für alle möglich, eine flexible, kollaborative und offen zugängliche Produktion von z.B. Haushaltsgeräten, bei der die Objekte in offenen Gemeinschaften demokratisch entworfen, entwickelt und produziert werden.

Heute bekommt der Begriff „Dutch Design“ eine andere Konnotation. Die niederländischen Hochschulen sind bei einer sehr internationalen Studentenschaft aus aller Welt äusserst beliebt, die von dem Klischee „Dutch Design“ angezogen werden. So umschreibt diese Definition heute eine Designverständnis das in der Ausbildung wurzelt, deren Credo internationale Auswirkungen hat. Auch heute sind die Niederlande also Spitzenreiter der global relevanten Entwicklung von Design. Die klischeehaften Verallgemeinerungen stimmen immer noch.
Auch die aktuelle Designergeneration ist kritisch, experimentell, humorvoll, konzeptionell und auf den Punkt. Sie schätzt Autonomie und fordert Freiheit zum Experimentieren. Doch sie geht in wesentlichen Aspekten darüber hinaus. Sie bemüht sich, soziale Relevanz und Wirkung zu erzielen, wobei der Schwerpunkt auf einer forschungsorientierten und kollaborativen Praxis liegt. Die Bedeutung der Autorenschaft des individuelle Designers tritt hinter der kollektiven Leistung zurück. Die ausdrückliche Suche nach interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Wissenschaften, Technologie, Politik und natürlich mit Kunst und Handwerk hat höchste Priorität.

do_it_Kostas_Lambridis_1882
Kostas Lambridis, elemental Cabinte, 2017 – Dieses Möbelstück versucht alle möglichen kreativen Kräfte zu kombinieren um das Dilemma der Designer darzustellen. Der Einsatz von stilistischen Elementen, künstlichen und natürlichen Formen und Materialien betont die nicht-hierarchische Herangehensweise.

Design wird nicht mehr als kulturelle Avantgarde verstanden sondern geht jedermann etwas an. Zwar bleibt das unveränderte Ziel, narrative Designs zu schaffen, die nach einer wertvollen Beziehung zum Benutzer suchen. Doch nicht nur konkrete Objekte sondern auch experimentelle Materialforschung oder sogar spekulative Zukunftsszenarien sind gültige Ergebnisse zeitgemässer Entwurfsprozesse. Mit „do it ourselves“ als übergreifender Haltung sind die Designer heute noch vielseitiger als frühere Generationen. Sie folgen zwar der Tradition von „Dutch Design“ doch gleichzeitig finden sie eigene Wege zu einem resilienten Design für eine verletzliche Welt .

Das Bewusstsein für die Welt in all ihrer Komplexität ist von größter Bedeutung für die Designer, die sich heute mehr an den menschlichen Bedürfnissen als an wirtschaftlichen Parametern orientieren. Design wird als emanzipatorische Kraft für eine Gesellschaft angesehen, die allumfassend offen und für alle zugänglich ist. Als „digital natives“ sind sich die jungen Designer natürlich der Omnipräsenz von Technologie sehr bewusst und erkunden die gebotenen Möglichkeiten.

do_it_Tamara_Orjola
Tamara Orjola, Forest Wool,2016 – alljährlich werden nur in der EU 600 Millionen Pinien gefällt. Da ist nicht nur Holz sondern 30% eines Baumes sind Piniennadeln.Sie können ausgezeichnet als Alernative für alle Arten von Fasern eingesetzt, in Textilien, Papier und Zusatzstoffe transformiert werden, Öle und Färbemittel lassen sich auch extrahieren…

Indem sie mit vorindustriellen Materialien – Ton und rexyceltem Kunststoff – experimentieren wird aus dem 3D-Drucker oder Roboterarm nur ein alternatives Glied in der Produktionskette. Selbst kunsthandwerkliche Qualitäten wie Einzigartigkeit und Handfertigkeit erfahren eine Aktualisierung, by „hacking the machine“.
Klassische Handwerkskunst und entsprechende lokale Produktion in kleinem Maßstab basieren nicht mehr auf einer Neubewertung von Traditionen, die in früheren Generationen oft zu Nostalgie führten. Die selbstproduzierenden Designer von heute experimentieren mit einer zeitgenössischen Designsprache, sachlichen Konstruktionen und mutigen nachhaltigen Materialanwendungen. Handwerkliche Qualitäten erfahren große Wertschätzung, Ästhetik und Techniken werden erneuert.

Ebenso kritisch ist ihr Blick auf traditionelle industrielle Produktion – hier verlagert sich der Fokus von neuen Produkten auf neue Produktionsmethoden. Design ist mehr als nur eine Reihe von Fähigkeiten. Es ist zu einer Denkweise geworden, zu einer Mentalität, die immer in Möglichkeiten und Lösungen denkt, nicht aber in Poblemen und Hindernissen. Moderne Designer vertrauen auf Instinkt und Intuition, sie sind gleichzeitig Denker und Macher. Sie wollen die Welt verbessern und dort verändern wo es notwendig ist. Ihr Werkzeug um diese Ziele zu erreichen sind Zusammenarbeit, Forschung und Beteiligung. Sie stehen im intensiven Dialog mit der Gesellschaft damit letztendlich das Potenzial des Designs als Kraft für Emanzipation und Empowerment voll ausgeschöpft werden kann. Designer befähigen uns unsere eigenes Lebensumfeld zu verbessern, lokal und global, reich und arm, Männer, Frauen und alles dazwischen.

do_it_Aliki_va_der_Kruijs_1879
Aliki van der Kruijs, Made by Rain, 2012 – ongoing – mittels „Pluviagraphy“wird die visuelle Aufzeichnung von Regenfall auf ein präpariertes Stück Stoff möglich. im Rahmen diess Projektes sol ein Regen-Atla entstehen, der Regefälle in aller Welt dokumentiert…

Diese hier nur sehr oberflächliche Skizze eines tiefgreifenden Trends belegt der Autor Jeroen Junte in seinem umfassend gehaltvollen und inspirierenden Buch, indem er uns fast 200 Design-Projekte in ihrer Intention und Wirkung vorstellt, indem er unterschiedliche Designansätze anschaulich erläutert, indem er hochinteressante und isnpirierende Gespräche mit Designern dokumentiert und indem er auf die verschiedenen Design Manifeste eingeht, die im vergangenen Jahrzehnt in den Niederlanden veröffentlicht wurden.

Ich bin selten einem solch üppigen Fundus an innovativen Ideen und Überlegungen, Thesen und Fragen in so komprimierter Form begegnet. Das ist garnicht alles auf einmal zu bewältigen. Eher Tag für Tag. Ein Aufsatz. Eine Anregung. Ein Projekt. Als Infusion oder Anknüfungspunkt für die eigene Beschäftigung, den eigenen Anspruch, den eigenen Kosmos. Eine Ermunterung Neues zu wagen oder auch, sich bestätigt zu fühlen. Genau das richtige Buch zur richtigen Zeit!

Text: © Schnuppe von Gwinner

Do It Ourselves – A New Mentality in Dutch Design
Autor: Jeroen Junte

NAi publishers, Rotterdam
288 Seiten
39,95 Euro
ISBN 978-94-6208-520-6

craft2eu_Banner19