Was könnte ich mit einem Sommertag Zeit anstellen? Zum Beispiel, mir einen langgehegten Wunsch erfüllen: nach Coburg fahren um mir die Ausstellung zum Coburger Glaspreis 2022 anzuschauen! Ich ahne, das bedeutet keine Zeit zu verlieren, denn die Wege sind weit. Die Einheimischen und die Eingeweihten wissen das und bekommen mit dem Eintrittsticket – hier oder da – eine vier Wochen-Frist für den Besuch der Ausstellung geschenkt. Mir ahnungslos Zugereister nützt das leider wenig.
Ich beginne intuitiv im Europäische Museum für Modernes Glas in Rödental. Es liegt am Eingang zum Landschaftsgarten des Schlosses Rosenau – Idylle pur! Die benachbarte Orangerie wird gerade für ein Fest hergerichtet, die schattigen Bäume vor dem Parkrestaurant laden nach der langen Anreise zum Verweilen ein. Alle anderen Attraktionen habe ich nicht gesehen – keine Zeit, keine Zeit – ich muss und möchte wiederkommen, denn ich ahne es, es ist traumhaft schön und es gibt viel zu entdecken.

Seit 2008 ist das Europäische Museum für Modernes Glas in einem Neubau mit 1.260 m² Ausstellungsfläche untergebracht, der vor allem dem Coburger Unternehmer und Mäzen Otto Waldrich zu verdanken ist. Die Dauerausstellung im Erdgeschoss dokumentiert die Entwicklung des Studioglases von den 1960er Jahren bis heute, mit künstlerisch gestaltetem Gebrauchsglas und Objekten sowie Skulpturen und Installationen aus Glas. Kern der Sammlung bilden Werke, die anlässlich der vier Coburger Glaspreise der Jahre 1977, 1985, 2006 und 2014 präsentiert wurden. Über eine Glastreppe geht es in das Obergeschoss zum Sonderausstellungsraum und zum Lampenglasstudio. Auf der Galerie gibt es Informationen zur Herstellung von Glas und dessen unterschiedlichen Verarbeitungsmöglichkeiten. Im Untergeschoss befindet sich die Studiensammlung Keramik.

Nur ein kleiner Teil der aktuellen Coburger Glaspreis Ausstellung sei hier ausgestellt informiert mich die nette Dame an der Kasse, die Hauptausstellung sei in der Veste Coburg. Also nehme ich mit vor die Besichtigung zügig zu absolvieren, denn es ist nur bis 17 Uhr geöffnet! Auf meine erschrockene Nachfrage heisst es, man sei ja doch eher in der Provinz, da müsse das reichen. Der Coburger Glaspreis wird von den Coburgern selbst als wichtigster Wettbewerb für zeitgenössische Kunst aus Glas in Europa bezeichnet dessen hochaktuelle Themen und die Vielfalt der eingesetzten Techniken die Coburger Ausstellung zu einem besonders spannenden Highlight im internationalen Jahr des Glases 2022 machen – da könnte man sich schon eindeutiger zwischen provinziellem oder internationalem Anspruch entscheiden und den großen Worten auch Taten folgen lassen, wünsche ich mir, bis 18 Uhr Öffnungszeit ist doch eigentlich internationaler Standard. Doch eine eindeutige, klare Kommunikation der komplizierten Ausstellungsstruktur mit vier verschiedenen, teilweise weit auseinanderliegenden Präsentationsorten wäre auch sehr hilfreich gewesen und könnte vermitteln, dass ein Tagesausflug zum Coburger Glaspreis 2022 mindestens den ganzen Tag, besser zwei Tage in Coburg braucht.

Die hellen, lichtdurchfluteten Räume des Europäischen Museums für Modernes Glas eignen sich perfekt für die Präsentation von Glaskunst und es ergeben sich wundervolle Durch- und Einblicke. Die Sensation der Objekte in der Glaspreis-Schau und der in der ständigen Ausstellung treten in scharfe Konkurrenz: einfach mal so durch huschen geht nicht! Viele bekannte Glashandschriften möchten erneut bewundert und begrüßt werden – es tut ja auch dem eigenen Ego gut, auf Bekanntes, Vertrautes und Geschätztes zu treffen und sich damit etwas als Connaisseur fühlen zu dürfen, auch wenn es in Wahrheit noch ein langer Weg dahin ist. Begeistert von diesem hochkarätigen Aperitif zeitgenössischer Glaskunst geht es nun hinauf zur Veste Coburg.
Der Weg dorthin ist verschlungen und setzt voraus, dass man Zeit und Bereitschaft für eine 20 minütige Wanderung entlang der Strasse mitbringt. Besonders stilvoll, und sicher auch sehr erbaulich, wäre der Spaziergang und Aufstieg von der Coburger Innenstadt her kommend – knapp 2 Kilometer durch herrliche Parklandschaft mit schönen Blicken, die während der beschaulichen Ruhepausen zu geniessen sind. Meine Situation ist eine andere und die Zeit eilt unerbittlich.
Im Laufschritt erstürme ich die Veste Coburg, suche den Eingang zum Museum und werde dort mit der Information konfrontiert, dass ich ja schon ziemlich spät dran sei mit meiner Absicht die Ausstellung zum Coburger Glaspreis 2022 anzuschauen – und die große Tasche muss in den Locker. Die Ausstellung hat drei Teile, einen hier entlang, einen im Keller und einen auf der anderen Seite der Veste, erklärt die Aufsicht in alle Richtungen gestikulierend.

Ich beginne mit dem ersten Teil, hier nun hinter dicken Burgmauern aber mit gekonnt theatralischer Lichtführung. Die Exponate kommen fantastisch zur Geltung, locken mit ihren optischen Spitzfindigkeiten, Effekten und unterschiedlichsten Oberflächen und Innenleben. Installationen greifen aktuelle, gesellschaftspolitische Themen auf und setzen sich mit unseren zerbrechlichen Lebensgrundlagen auseinander. Neben künstlerischen Positionen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit finden sich auch solche zu politischer Unterdrückung und zur Corona-Krise. Damit bewegen sie sich, ebenso wie die mit der Fotografie anbändelnde Werke, an der Grenze dessen was ich persönlich eindeutig der Glaskunst zurechnen würde. Der allgemeine Kunstbegriff wäre sicher für manches angemessener – da hätte ich gerne Mäuschen bei den Diskussionen der Jury gespielt…

Ja, dieser erste Ausstellungsteil auf der Veste erschien mir wie das Filetstück der Ausstellung, auch wenn ich die Sensation der Preisträgerwerke persönlich nicht nachvollziehen konnte. Da klafft offenbar noch eine große persönliche Wissens- und Verständnislücke in meiner Wahrnehmung – den Begründungen der Jury zum Trotz. Aber das macht ja die Auseinandersetzung mit den materialdefinierten angewandte Künsten so spannend, diese Wanderung zwischen den Welten der Funktionalität und der Bedeutung, die sich durchkreuzen und verweben und so viele Meinungen wie Köpfe evozieren, je nachdem woher man kommt.

Der 2.Teil der Ausstellung! Um nicht der Gefahr ausgesetzt zu werden mich heillos in den Hallen, Kemenaten, Gängen und Treppenhäusern der Veste zu verlaufen, geleitete eine hilfsbereite Frau des Aufsichtpersonals mich sicher ans Ziel. Doch es war ein schmerzlicher Gang im Sauseschritt, vorbei an den unglaublichen Schätzen der ständigen Sammlung, z.B. durch die sensationelle Sammlung historischer Gläser für deren Besichtigung ich unter normalen Bedingungen vermutlich schon einen halben Tag Zeit gebraucht hätte. Tief unten in den Kellergelassen warteten dramatisch inszenierte Installationen, eigentümliche Narrative aus Glas. Zum Beispiel das Werk der 2. Preisträgerin, der Irin Alison Lowry „bury us with dignity“ (2021), das an den Tod tausender von Neugeborenen und Kindern in den irischen Kinderheimen des 19. und 20. Jahrhunderts erinnern möchte. Viele weitere Exponate eröffnen eine ganz eigene Welt, die sich nur mit aufmerksam genutzter Zeit erschliessen lässt, die ich jetzt nicht habe, da hinter mir bereits lautstark die ersten Türen zu den Nebengelassen verschlossen werden.

Also laufe ich gemeinsam mit den Museumswärtern die Treppen hinauf, werfe noch einen halben Blick in den Saal mit den historischen Kutschen und Schlitten, und suche mir dann einen Weg nach draussen, zum Shop, denn da sei der 3.Teil des Glaspreises ausgestellt, das würde ich dann schon von draussen erkennen. Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Ich finde tatsächlich den Shop und dahinter, auf Nachfragen, den dunklen Ausstellungsraum. Hier fällt nur zaghaft das Tageslicht auf manche diesbezüglich glücklich aufgebaute Exponate wie das Dürer‘sche Grosse Rasenstück in Glassplittern, einer Interpretation von Masami Hirohata. Die meisten Exponate kann ich jedoch nur in ihrer Wirkung erahnen, denn Glas spielt immer gern mit Licht und das gibt es hier nicht. Ein freundlicher Mann bittet mich zum Ausgang. Ja, er habe die Beleuchtung schon ausgeschaltet, es ist zehn vor fünf.
Mein Fazit?
Wenn ich geahnt hätte was mich in Coburg erwartet, hätte ich mindestens das gesamte Wochenende für meinen Besuch eingeplant! Ich wäre am Freitagabend angereist, hätte früh am Samstagmorgen die beeindruckende Moritzkirche besichtigt und wäre über den betriebsamen Markt auf dem historischen Marktplatz flaniert. Nach einem Cappuccino hätte ich mir den Bus hinauf zur Veste gesucht und wäre hinauf gefahren. Den Nachmittag – bis zehn vor fünf – hätte ich in der Glaspreis Ausstellung, und durch die Verlockungen der historischen Sammlung treibend, verbracht. Noch einen Radler und eine Brez‘n in der Burgschenke zur Stärkung für den Weg hinab in die Stadt, zu Fuß, die Natur und weiten Blicke geniessend. Der Abend im Theater und/oder bei köstlichen Angeboten der Coburger Gastronomie usw. Den gesamten Sonntag hätte ich dem Rosenauer Schloss, dem Park und seinen Attraktionen und dem Europäischen Museum für Neues Glas geschenkt. Es wäre ein herrliches, reiches Wochenende geworden!
Wer mag – die Gelegenheit ist noch bis zum 25.September gegeben! Vielleicht trifft man sich ja.
Es gibt noch einige Termine: > 10 Führungen und Gespräche zum Coburger Glaspreis 2022
Kunstsammlungen der Veste Coburg
Veste Coburg
96450 Coburg
Europäisches Museum für Modernes Glas
Rosenau 10
96472 Rödental
Öffnungszeiten: bis 6. November 2022: täglich 9.30 bis 17 Uhr.
