Wie wir alle, so wurde auch die norwegische Künstlerin Kari Steihaug von den Corona-Shutdowns ausgebremst. Sie nutzte dieses Geselligkeits- und Verpflichtungs-Vakuum um ihr schon länger geplantes Buchprojekt voranzubringen. 2022 erschien die Dokumentation von 25 Jahren künstlerischer Arbeit anlässlich einer Ausstellung in der Droppsfabrikken Trondheim, war aber von vorne herein nicht als Ausstellungskatalog konzipiert. Während die Monografie dort auf Norwegisch erhältlich war, erschien die englische Ausgabe bei arnoldsche art publishers in Stuttgart, als üppiges Softcover hochwertige, ungestrichene Munken Feinpapiere unterschiedlicher Grammatur in Schweizer Broschur vereinend. Also schon haptisch, optisch und sinnlich ein wahres Erlebnis und damit seinem Gegenstand so nah wie möglich, eine wahre Wonne darin zu blättern, zu betrachten und zu lesen.

Großformatige, atmosphärisch dichte Fotos der Objekte, Installationen und Situationen und viele Details wollen hier entdeckt und ausgiebig studiert werden. Textiles in fotografischen Abbildungen wahrhaftig wiederzugeben gilt unter Fachleuten als eine echte Herausforderung. Hier ist es bravourös gelungen, in überzeugend eigenständigen Interpretationen von Kari Steihaugs Kunst und Situation, über die Jahre von den Fotografen Espen Tollefsen, Jannik Abel, Michal Tomaszewicz, Tomas Tveter und Tone Iren Eggen Tomte einfühlsam und virtuos festgehalten. Die AutorInnen Monica Aasprong, Ingvill Henmo, Anne Karin Jortveit, Aasne Linnesta, Halvor Nordby, Kjetil Roed, Cecile Skelde, und die Künstlerin selbst, führen mit ihrer multiperspektivischen Poesie und Prosa in das Oeuvre von Kari Steihaug ein, das eine unerschöpfliche Fülle von Anknüpfungspunkte bietet.

Kari Steihaug wurde 1962 in Oslo geboren und wuchs in einer Familie auf, in der textile Fertigungstechniken, Stricken, Häkeln und Nähen selbstverständlich waren. So brauchte sie einige Zeit um das künstlerische Potential in diesen Techniken und Materialien zu erkennen, die ihr in der eigenen Kindheit so nah und gegenwärtig waren. Erst über Umwege fand sie 1990 zum Kunststudium in Oslo, ab 1994 an der Kunstakademie in Bergen und 1997 an die Metropolitan University im englischen Manchester. Hier entdeckte sie aufgegebene, verlassene Textilfabriken und erkannte in den dort vergessenen Artefakten die Memorabilien einer vergangenen Zeit und Kultur und ihren symbolischen Wert, einen künstlerischen Ansatzpunkt, den sie während der Jahre ihres Masterstudiums, von 1998 bis 2000 an der nationalen Kunstakademie in Oslo, weiter verfolgte.

Kari Steihaug arbeitet mit Textilien, die ihren großen Auftritt schon längst oder auch nie hatten, sei es als prachtvolle Gardine, neues Kleid oder Lieblingspullover. Unvollendetes, wie z.B. angefangene Strickzeuge, inspiriert sie in ganz besonderer Weise. Sie entdeckt, sammelt, bewahrt und arrangiert Geringgeschätztes, Vergessenes, Unvollkommenes. Fundstücken verleiht sie eine umfassendere Bedeutung, indem sie ihre Geschichten von Liebe, Verlust und Leben verbindet, die jeder Betrachter und jede Betrachterin intuitiv versteht und mit etwas Vertautem assoziiert. Sie erweitert und ergänzt strickend, stopfend, tuftend, häkelnd, nähend und – sie ribbelt auf! Diese lockig lange Fäden sind beredt, ziehen sich aus den Textilien, Bildern oder Kleidungsstücken, so wie die Sprache die Gedanken hinter sich her zieht. Wie ein geschriebener Satz haben sie einen Anfang und ein Ende, mal nachvollziehbar, mal in einem heilloses Gewirr mündend. Indem wir darin lesen erinnern wir uns an längst Vergessenes. Das vorliegende Buch berichtet ausführlich von vielen wunderbaren Projekten und Installationen von Kari Steihaug, die übrigens in einem verwunschenen historischen Gebäude auf einer Insel im Oslo-Fjord ihr großzügiges Atelier hat. Hier spürt sie dem Geist der Materie nach, erweckt das Bewusstsein für den ideelen Wert materieller Dinge, der von den Menschen zu denen sie gehören erschaffen wird und der mit ihrem Verschwinden vergeht – es sei denn Kari Steihaug macht ihn durch ihre poetischen Konzepte sichtbar.
Ein Beispiel möchte ich hier beschreiben um bei meinen LeserInnen Lust auf mehr zu wecken:

Das Archiv der „The unfinished ones“ umfasst 196 Strickzeug-Fragmente aus den Jahren 1998 bis 2018. Als Kari Steihaug ihren Dachboden zu Hause aufräumte begann sie das Projekt. Sie fand dort ihre eigenen alten Strickzeuge aus den 1980er Jahren. Keines davon war fertig, aber jedes erinnerte sie an Zusammenhänge, die sie völlig vergessen hatte, z.B. an den Mann, der den gemusterten Pullover nie bekommen hatte. Jeder hat unfertige Strickarbeiten. In einer Radiosendung bat Kari Steihaug um die unvollendeten Strickzeuge anderer Leute. Sie sprach mit Freunden und Bekannten darüber und lancierte immer wieder neue Aufrufe um unvollendete Strickzeuge und ihre Geschichten zu bekommen. Der Künstler Espen Tollefsen half dabei, jedes unfertige Strickstück zu fotografieren, bevor er es seinem Besitzer zurückgab. Die Geschichte, warum das jeweilige Strickstück nie fertiggestellt wurde, schrieben die Leihgeber selbst auf. Sie steht unter jedem Bild. Dass die Zeit schneller vergeht, als die Hände arbeiten. Dass das kleine Mädchen Zeit hatte, ein Schulmädchen zu werden, bevor der Pullover fertig war. Dass das Muster nicht zu ihrer Geduld passte. Aber auch dramatischer: dass etwas zu Ende ging.
„Wenn ich Fotos an die Wand hänge, anstatt jedes einzelne Strickstück, dann nur, um ihnen eine Distanz zu geben. Das macht es einfacher, die Poesie zu sehen. Die großen Dramen in unserem Leben, mit Verlusten und Trennungen, hängen neben den kleinen Dingen, wie z. B. dem auslaufenden Garn.“ sagt Kari Steihaug.

Doch zumeist sprechen ihre Werke in ihrer physischen Präsenz für sich, stossen einen philosophisch, existenziell, kulturell oder auch ganz privaten Dialog mit ihrem Betrachter an. Sie brauchen immer die Kraft unserer Imagination, die uns die Richtung weist zu dem was das Werk uns sagen möchte. Die zyklische Arbeitsweise von Kari Steihaug, in der die Auflösung nicht Zerstörung meint, sondern eher den Startpunkt für etwas Neues, macht die Sache so spannend. Sie lässt uns ungeahnte Fäden spinnen, Spuren suchen und Anregungen finden. Es gibt viel zu lachen und noch mehr zum Nachdenken – es ist wundervoll, dieses Buch und die Kunst von Kari Steihaug.

Nina M. Schjønsby (Hrsg.)
KARI STEIHAUG
Mit Beiträgen von Monica Aasprong, Ingvill Henmo, Anne Karin Jortveit, Aasne Linnestå, Halvor Nordby, Kjetil Røed, Cecilie Skeide und Kari Steihaug
240 Seiten
21 x 29,7 cm, 183 Abb., Schweizer Broschur, Englisch,
ISBN 978-3-89790-684-6


