Westerwaldpreis 2024: die Preisträger:innen

Irina Razumovckaya, "Bleed", Steinzeug, Porzellan, Pigmente, Detail | Foto: Helge Articus

Bereits zum 15. Mal wurde der Westerwaldpreis ausgeschrieben, um herausragende keramische Arbeiten im Rahmen eines Wettbewerbs und einer Ausstellung zu präsentieren. Gleichzeitig dient die 1973 ins Leben gerufene Auszeichnung dazu, den Dialog von Keramik und Kunst in der Region zu fördern und den kulturellen Austausch zu pflegen. „Die hohe Zahl an Bewerbungen aus ganz Europa zeigt, welch prestigeträchtiges Aushängeschild der Preis für den Westerwald ist. Beeindruckend spiegeln die eingereichten Werke die große Vielfalt heutiger keramischer Arbeiten wider“, sagt Nele van Wieringen, Leiterin des Keramikmuseums Westerwald in Höhr-Grenzhausen und Moderatorin des Juryverfahrens.

Das Keramikmuseum verkündete schon jetzt die Preisträgerinnen des Westerwaldpreis 2024, die jedoch erst ab dem 27. September 2024 gemeinsam mit den 90 Werken der zweiten Juryrunde in einer Ausstellung im Keramikmuseum Westerwald in Höhr-Grenzhausen vorgestellt werden.

Die Jury hatte in der 1. Runde 3192 Abbilder von 1064 Werken aus 627 anonymisierten Bewerbungen zu sichten. Daraus ergab sich ihre Auswahl von 90 Werken, die zur Objektjury ins Keramikmuseum eingeladen wurden. Anfang Juni 2024 reiste die internationale Jury nach Höhr-Grenzhausen und prüfte in einer zweitägigen Zusammenkunft die künstlerische und handwerkliche Qualität jedes einzelnen zugelassenen Werks.

Der Jury gehörten Prof. Tulga Beyerle (1. Rde) Vasi Hîrdo, Wolfgang Lösche (2.Rde), Jorunn Veiteberg, Oriol Calvo Vergés, Nele van Wieringen (Moderation Juryverfahren) und Petra Noll (Museen im WW GmbH) an.

Vergeben wurden folgende Preise:

FREIE KERAMIK:
1. Preis: 10.000 Euro an Irina Razmovskaya (RUS / ISR)
2. Preis: 6.000 Euro an Nora Arrieta (DEU)
FÖRDERPREIS: 3.000 Euro an Beate Gatschelhofer (AUT)
SALZBRAND (Preis der Stadt Höhr-Grenzhausen): 10.000 Euro an Bodil Manz (DNK)

Die Preisverleihung und Eröffnung der Ausstellung findet am 27. September 2024 statt. Auch dann werden wir erst etwas über die Beweggründe der Jury zu ihrer bemerkenswerten Auswahl der Preisträger erfahren. Bis es soweit ist möchte ich die Ausgezeichneten und ihr Werk hier nur  kurz vorstellen:

Irina Razmovskaya:

IRINA RAZUMOVSKAYA
Irina Razumovckaya, „Bleed“, Steinzeug, Porzellan, Pigmente, 2019/2022 | Foto: Helge Articus

Die russisch-israelische Künstlerin mit britischer Staatsbürgerschaft, Irina Razumovskaya (*1990), ergänzte ihre umfassende Ausbildung an der Akademie für Kunst und Design in Sankt Petersburg im Jahr 2017 mit dem Master in Keramik und Glas an der Royal Academy of Art in London, wo sie heute lebt und arbeitet. In ihren vielfältigen, schon häufig preisgekrönten Werken mischt die Künstlerin architektonische und natürliche Formen, die sie mit innovativen Oberflächeneffekten und Glasuren versieht. Sie vermittelt den Eindruck von abblätternden Schichten, die von der Zeit berührt, belebt und voller Erinnerungen sind. Irina Razumovskaya gelingt es, ein Gleichgewicht zwischen Gedanken und Prozessen herzustellen. Sie  lässt Einflüsse aus der Erinnerung, der Literatur, der Psychologie und der Kunstgeschichte in dreidimensionale Formen einfliessen.

Das nun ausgezeichnete Objekt ist Teil der Werkserie „BARKSKIN“, mit der Irina versucht, die Schönheit des Alterns, des Verfalls und der Verwahrlosung neu zu überdenken. Die Arbeiten sind von den Veränderungen der Birkenrinde inspiriert, die in der russischen Kultur als Metapher für das Altern der Frauen steht. Das preisgekrönte Stück trägt jedoch den Titel „BLEED“  – Bluten – und legt, auch angesichts des Werkes  selbst, eine offensichtliche Dramatik nahe, die vom Wissen um die Herkunft der Künstlerin noch gesteigert wird. Zum Jahreswechsel beklagt Irina Razumovskaya in einem bewegenden Instagram-Post: „Nicht nur, dass der Krieg in einem meiner Länder nicht aufgehört hat, es gibt auch einen neuen in dem anderen Land. … Viele liebe Menschen starben oder wurden sehr krank. …“ Wann immer „BLEED“ entstanden ist,  genau JETZT vermittelt es uns die Botschaft einer zutiefst berührenden Reflexion der Verletztheit und Verletzlichkeit aller Beteiligten.

Nora Arrieta

Nora Arrieta
Nora Arrieta, „Toteninsel“ 2024 | Foto: Helge Articus

Nora Arrietas (+1989) Werk ist von der Tiefe und Weitläufigkeit Ihrer Ausbildungskarriere in Deutschland und den USA geprägt, mutig in Methoden und Thematik. Auch sie ist ein aktuelle Favoritin vieler Preisjuries. 2022  bekam sie den Frechener Keramikpreis, 2023  den Leipziger Sparkassenpreis und in diesem Sommer erhält sie mit dem Förderpreis „Keramik im Pulverturm“ Gelegenheit ihr vielschichtiges Oeuvre in einer Einzelausstellung in Oldenburg (30.06. bis 25.08.2024) zu präsentieren. „Nora Arrieta verwandelt den mittelalterlichen Pulverturm mit ihren farbgewaltigen Keramiken in ein zeitgenössisches Schlaraffenland, in dem es Konsumgüter im Überfluss gibt. Doch anders als in der märchenhaften Version des fiktiven Ortes, in dem Genießen die größte Tugend der Bewohner ist, ist die Welt bei Nora Arrietas Interpretation aus den Fugen geraten. Mit magischen Bildwelten, ironischer Absurdität und üppigen Glasuren entwirft die Künstlerin eine freche Ikonografie der Gegenwart, die den Widerstreit von menschlicher Kultur und Natur zeigt“, beschreibt Sabine Isensee die Arbeitsweise von Nora Arrieta.

Arnold Böcklins populäres, auch weil kontemplatives Gemälde „Toteninsel“ entstand 1883 und erfährt durch Nora Arrietas Skulptur, die nun prämiert wird, ein verstörendes Update. Unübersehbar sind ihre farblichen und formalen Reminiszenzen, doch hoher Wellengang, alles durchdringende Fluten, Ertrunkene, Wohlstandsmüll und nicht zuletzt das Motiv des goldenen Pferdes sind erst für uns Zeitgenossen in ihrer erschreckende Evidenz les- und deutbar. „Ich erforsche die Banalität des alltäglichen Lebens, indem ich Geschichten erzähle, in denen ich alltägliche, greifbare Gegenstände und subtile Situationen miteinander verschmelze, forme und in Ton modelliere,“ sagt  die Künstlerin, “ mit dieser Intention erfinde ich eine persönliche und freche Ikonographie der Gegenwart, die durch erzählerische Elemente, sinnliche Skulpturen und Installationen verstärkt wird.“

Beate Gatschelhofer

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Beate Gatschelhofer, „stummes Lächeln einwärts“, Keramik, Engobe, 138 x 97 x 95 cm, 2023 | Foto: Helge Articus

Seit 2021 studiert Beate Gatschelhofer  (*1994) aus Österreich an der Kunstuniversität Linz um die bereits reiche Ausbildungserfahrung mit einem Diplomstudium Bildende Kunst, Bildhauerei – transmedialer Raum zu ergänzen. Deren ausserordentliche künstlerische Sprache fand schon viel Anerkennung, wurde mit Preisen und Residencies ausgezeichnet. Das aktuell prämierte Werk „stummes Lächeln einwärts“ gehörte zu Beate Gatschelhofers Bachelorpräsentation. In der künstlerischen Arbeit spielt die Neuverortung traditioneller keramischer Arbeitsprozesse in der Bildenden Kunst ebenso eine zentrale Rolle wie die Erschließung der Skulpturen durch lyrische Zugänge über Wortphrasen, Gedichte, Fundstücke oder abstrakte Empfindungen.

Beate Gatschelhofer
Beate Gatschelhofer / Portfolio

Ausgehend von Lyrik oder Texten entstehen mehrteilige Installationen und serielle Arbeiten. „Mein Interesse für zufällige Gegebenheiten, die ich in meiner Umwelt vorfinde, wie Fundstücke, Geschehnisse, aufgeschnappte Wortphrasen, oder Emotionen übersetze ich in materielle und sprachliche Konstrukte, mit denen ich experimentiere und diese frei kombiniere, erklärt Beate Gatschelhofer“, das Bilden und Suchen von visuellen sowie von ideologischen Ordnungssystemen, als auch die poetische Transkription vom Ausgangsmedium zum Objekt sind Bestandteil meiner Arbeitsweise. Einen zentralen Aspekt in meiner Arbeit stellt das Experimentieren mit Techniken und Materialien dar, die dem klassischen Keramikhandwerk zugeordnet werden.“

Die Skulptur „stummes Lächeln einwärts“ bietet sich als eine massive Komposition aneinander geschmiegter, abstrahierter Buchstaben (wohlmöglich) dar. Von allen Seiten ergibt sich ein stetig wechselnder Eindruck, der mal durch die farbige Fassung und Struktur in Weiß, Teracotta, Hellblau und Rosa eher Leichtigkeit, dann durch die massiven, instabilen Volumen doch wieder Gewichtigkeit suggeriert, also eine Ambivalenz, die eigenständige Interpretationsversuche erschwert aber gleichzeitig herausfordert. Beate Gatschelhofer komponiert Werke meistens im Kontext von Installationen, Serien und Gruppen, die genauso beredt sind wie eine Menschengruppe. Der Austausch, das Assoziative, die sich daraus ergebenden Interpretations- und Erzählvarianten werden durch wunderbare Titel angeteasert, die die Betrachtenden verlocken, sich einzulassen und zumindest intellektuell Teil des Kunstwerks zu werden..

Bodil Manz:

Bodil Manz
Bodil Manz, „Marfa“ Gefäßskulpturen, Salzbrand | Foto: Helge Articus

Über 40 Jahre hat die dänische Künstlerin Bodil Manz (*1943) ihre Keramikkunst perfektioniert, ist international sehr erfolgreich und berühmt für ihre hauchdünnen, transparenten Zylinder. Diese sind gegossen und bestehen aus weißem, durchscheinendem Porzellan, das so dünn ist, dass  äußere und innere Dekore zu einer Komposition verschmelzen. Immer wieder experimentierte Bodil Manz  und suchte nach neuen Herausforderungen in Bezug auf Ausdruck und Technik, unter anderem in Bildern aus Gips, Sandgussporzellan, handgeschöpftem Papier und auch in der   Salzbrandtechnik.

„Marfa“ nennt sie ihre dickwandigen Keramikzylinder – wohlmöglich als eine Reminiszenz an den US-amerikanischen Künster Donald Judd, der in den  1970er Jahren vor allem in Marfa, Texas lebte. Er wurde berühmt durch seine reduzierten, geometrischen Grundformen, aus denen er eine Ästhetik des Minimalismus schuf. Bodil Manz lässt sich davon inspirieren. Sie setzt schwarze Balken und Rechtecke auf die lebendigen, von den hohen Temperaturen im Salzofen gezeichneten Oberflächen ihrer dickwandigen Zylinderformen, deren Korpus auf eingezogener Basis zu schweben scheint. Kraftvoll und irden behaupten sich diese als Gefäss-Skulpturen in bestechender Klarheit. Und  sie können und wollen ihre Verwandtschaft zu den feinen Porzellanarbeiten, für die wir Bodil Manz so sehr bewundern, nicht verleugnen. „Marfa“ sind wie die großen Brüder, die sich ausdrucksstark und selbstbewusst neben die ebenso fragilen wie subtil dekorierten Familienmitglieder stellen. Überraschende Meisterwerke!

Bei der Eröffnungsfeier am 27. September überreichen Prof. Dr. Jürgen Hardeck, Staatssekretär im Ministerium für Familie, Frauen, Kultur und Integration des Landes Rheinland-Pfalz, der die Schirmherrschaft übernommen hat, Wolfgang Letschert, Bürgermeister der Stadt Höhr-Grenzhausen, und Achim Schwickert, Landrat des Westerwaldkreises, offiziell die Preise an die Preisträger. Zudem werden alle ausgewählten 76 Künstlerinnen und Künstler mit ihrem Werk in einem Katalog vorgestellt, der bei Arnoldsche Art Publishers, Stuttgart, erscheint.

Text: Schnuppe von Gwinner

Keramikmuseum Westerwald
Lindenstraße 13
56203 Höhr-Grenzhausen